Handlungsleitfaden zur Umsetzung des Housing-First-Ansatzes in Sachsen

8 HL Sachsen
  • Ort: Sachsen
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Dokumentenart: Handlungsleitfaden
  • Kategorien: best practices / lessons learned / Erfolge, Herausforderungen / Schwierigkeiten / Bedarfe, Wirkung: Kosteneffizienz

Der „Handlungsleitfaden zur Umsetzung des Housing-First-Ansatzes in Sachsen“ [zum Leitfaden] wurde im Oktober 2023 vom Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt herausgegeben. Der Leitfaden basiert auf den Erfahrungen aus der Evaluation des Housing-First-Projektes „Eigene Wohnung“ in Leipzig [zur Website] und soll als Grundlage für die Umsetzung weiterer Angebote genutzt werden. Er enthält unter anderem Angaben zu erforderlichen innerbehördlichen Voraussetzungen, einzukalkulierenden Kosten, zeitlichen Rahmenbedingungen, Best Practices sowie eine Checkliste zur Prüfung der Umsetzbarkeit für einzelne Kommunen (S. 3, 18-19).

Die Kernpunkte des Handlungsleitfadens werden nachfolgend themenspezifisch zusammengefasst.

Inhaltsverzeichnis Kernpunkte

best practices / lessons learned / Erfolge

Beziehungsaufbau und Vertrauen
Die Zielgruppe des Housing-First-Ansatzes hat häufig negative Erfahrungen mit dem Hilfesystem gemacht und begegnet diesem daher mit Skepsis. Ein frühzeitiger Beziehungsaufbau, bereits vor dem Wohnungsbezug, sowie ein aktives Zugehen auf die Betroffenen sind essenziell (S. 8). Da es in der Praxis häufig zu verpassten Terminen kommt, sollte dies von Beginn an einkalkuliert werden. Insbesondere bei der Vergütung des Personals ist es wichtig, entsprechende Ausfälle zu berücksichtigen (S. 5, 8). Die Straßensozialarbeit sowie andere Fachkräfte der Wohnungslosenhilfe haben sich als besonders geeignet erwiesen, um Kontakt zu potenziellen Teilnehmenden herzustellen. Geduld und Ausdauer sind hierbei entscheidende Faktoren. Kennenlerngespräche sollten in einer für die Wohnungslosen vertrauten Umgebung stattfinden, wobei nicht davon auszugehen ist, dass jeder vereinbarte Termin eingehalten wird (S. 16).

Kooperationsstrukturen und Netzwerke
Eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen ist erforderlich, um den spezifischen Problemlagen der Zielgruppe gerecht zu werden. Dies betrifft insbesondere die Kooperation mit Suchthilfeeinrichtungen und psychosozialen Diensten (S. 11). Überregionale Netzwerke und Austauschrunden, wie sie beispielsweise vom Bundesverband Housing First, dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe organisiert werden, können hierbei wertvolle Unterstützung bieten (S. 11). Zudem sind belastbare Beziehungen zwischen Trägern der Wohnbegleitung und relevanten Akteuren wie Vermietenden, Jobcentern, Sozialhilfeinstitutionen und spezialisierten Beratungsstellen (z. B. Schuldnerberatung) von Bedeutung (S. 12).

Behördliche Voraussetzungen
Für eine erfolgreiche Umsetzung von Housing First sind bestimmte innerbehördliche Strukturen zu beachten. Dazu gehört eine Leistungsvereinbarung zwischen dem Kreis und den Leistungserbringern nach § 75 SGB XII. Zudem muss geprüft werden, ob die Person zur Zielgruppe gehört, ob geeigneter Wohnraum verfügbar ist und wie lange die Hilfen bewilligt werden sollen. Um lange Wartezeiten bei der Bewilligung zu vermeiden, sollte eine priorisierte Bearbeitung erfolgen. Um Hilfeunterbrechungen oder frühzeitige Beendigungen zu verhindern, empfehlen die Autor*innen eine pauschale Finanzierung, da dies den bürokratischen Aufwand erheblich reduziert (S. 11).

Personal und Qualifikation
Die Bereitstellung adäquater personeller Ressourcen ist entscheidend für den Projekterfolg (S. 12). Wenn die Kommune Aufgaben wie Wohnungsakquise, Projektsteuerung, Gewinnung von Teilnehmenden und Wohnungsvergabe übernimmt, ist eine Vollzeitstelle erforderlich (ebd.). Ohne begleitende Forschung und Monitoring könnte eine Teilzeitstelle ausreichen. Werden jedoch sämtliche Aufgaben vom Projektpersonal übernommen, ist ein deutlich höherer Personalbedarf notwendig (ebd.). Während der Vorbereitungsphase des Modellvorhabens in Leipzig wurde eine 25%-Stelle über einen Zeitraum von 1,5 Jahren eingesetzt (S. 14). Künftig erwarten die Autor*innen, dass mit zunehmender Verbreitung des Housing-First-Ansatzes der Startaufwand sinkt (S. 14). Hinsichtlich der Qualifikation des Personals hat sich gezeigt, dass ambulante Wohnbegleitung häufig von Wohlfahrtsverbänden übernommen wird. Idealerweise verfügen die Mitarbeitenden dort über Erfahrungen im Umgang mit Suchterkrankungen und psychischen Beeinträchtigungen sowie über Kompetenzen in motivierender Gesprächsführung, ressourcenorientierter Unterstützung und lösungsorientierter Beratung (S. 15). Die Begleitforschung hält einen Betreuungsschlüssel von 1:8 bis 1:10 für vertretbar (S. 15).

Finanzierung und Kosten
Die Finanzierung der Maßnahmen stellt eine zentrale Herausforderung dar. Dabei sollte geprüft werden, ob bereits Ansprüche nach §§ 67 ff. SGB XII bestehen. In Leipzig beliefen sich die Kosten für wohnbegleitende Hilfen im Jahr 2023 auf 933 Euro pro Person und Monat bei einem Betreuungsschlüssel von 1:7. Darin inbegriffen war eine 24-Stunden-Erreichbarkeit sowie eine Teilzeitstelle für die Teamleitung. In Abhängigkeit vom lokalen Bedarf kann auf eine 24-Stunden-Bereitschaft verzichtet und stattdessen der Betreuungsschlüssel angepasst werden. In diesem Fall würden sich die jährlichen Kosten für die Wohnbegleitung auf etwa 9.000 bis 10.000 Euro pro Person belaufen. Im ländlichen Raum sind zudem höhere Fahrtkosten zu berücksichtigen. Ebenso spielt es eine Rolle, ob die Trägerorganisation oder die Kommune Aufgaben wie Wohnraumakquise übernimmt (S. 12). Zusätzlich wurden in Leipzig finanzielle Mittel zur Absicherung von Vermietenden bereitgestellt. Ein entsprechender Fonds in Höhe von 700 Euro pro Wohnung diente zur Abdeckung von Risiken wie Mietausfällen, Schäden durch Leerstand oder bauliche Mängel (S. 13).

Wohnraumakquise
Die Akquise von Wohnraum ist eine der größten Herausforderungen für Housing First. In der Praxis haben sich Kooperationsvereinbarungen zwischen Sozialämtern und Wohnungsunternehmen als wirksam erwiesen. Die Erfahrung aus dem Leipziger Projekt zeigt, dass eine zeitliche Synchronisation zwischen der Auswahl der Teilnehmenden und der Verfügbarkeit von Wohnungen angestrebt werden sollte. Zudem sollte die Wohnraumvergabe schrittweise erfolgen (S. 14). Wesentliche Kriterien bei der Auswahl der Wohnungen sind eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr sowie die Einhaltung der lokalen Richtlinien zu Kosten für Unterkunft und Heizung gemäß SGB II und SGB XII (S. 14). Da Vermietende dem Housing-First-Ansatz häufig skeptisch gegenüberstehen, haben sich Maßnahmen zur finanziellen Risikominimierung sowie Anreize wie Sanierungszuschüsse als hilfreich erwiesen. Zudem hat sich die Bereitstellung eines festen Ansprechpartners für Konfliktfälle bewährt. Die schnelle Kommunikation zwischen den beteiligten Akteuren spielt hierbei eine zentrale Rolle (S. 15).

Flexibilität und Dauerhaftigkeit
Zeitlich befristete Modelle sind mit den Prinzipien von Housing First nicht vereinbar, da die Hilfen flexibel und bedarfsgerecht gestaltet sein sollen. Wenn die Finanzierung der wohnbegleitenden Hilfen über §§ 67 ff. SGB XII erfolgt und dauerhafte Mietverhältnisse abgeschlossen werden, ist eine zeitliche Begrenzung nicht notwendig, da das Unterstützungsangebot ohnehin endet, sobald die Betroffenen keine Hilfe mehr benötigen (S. 13).

Öffentlichkeitsarbeit
Die Öffentlichkeitsarbeit spielt eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Umsetzung von Housing First. Sie dient nicht nur der Akquise von Wohnraum, sondern trägt auch zur Reduktion von Vorurteilen, zur Schaffung von Akzeptanz für den Housing-First-Ansatz und zur langfristigen finanziellen Absicherung der Angebote bei. Zudem ermöglicht sie die transparente Darstellung von Erfolgen und deren Bedeutung für die betroffenen Menschen (S. 17).

Checkliste zur Umsetzung
Zur Unterstützung der praktischen Umsetzung des Housing-First-Ansatzes wurde eine Checkliste erstellt, die zentrale Aspekte wie Wohnraumakquise, Trägerschaft, Zugang zur Zielgruppe und Finanzierungsfragen zusammenfasst (S. 18–19).

Herausforderungen / Schwierigkeiten / Bedarfe

Als erste Herausforderung nennen die Autor*innen die Ermittlung des Bedarfs an Wohnungen beziehungsweise die Ermittlung der Anzahl an Personen die der Zielgruppe entsprechen. Das liegt daran, dass die Zielgruppe des Housing-First-Ansatzes insbesondere Personen sind, die einen längeren Zeitraum ohne institutionelle Unterkunft auf der Straße gelebt haben. In den Daten des Statistischen Bundesamtes lassen sich allerdings nur Angaben über untergebrachte Wohnungslose finden, die nur begrenzt als Orientierung für die Größe der Zielgruppe genutzt werden können (S. 4).

Eine weitere Herausforderung ist, dass die Vergleichbarkeit des Leipziger Housing-First-Projekts mit Landkreisen aufgrund unterschiedlicher infrastruktureller Gegebenheiten nur eingeschränkt gegeben ist. Während in Leipzig beispielsweise eine ausgebaute Wohnungslosen- und Eingliederungshilfe sowie psychosoziale Versorgung vorhanden sind, fehlt es in ländlichen Regionen oftmals an diesen Strukturen. Zudem gibt es dort keine Straßensozialarbeit, die in Leipzig eine entscheidende Rolle bei der Akquise von Teilnehmenden spielte und den Zugang zur Zielgruppe erleichterte (S. 5). Ein weiteres Hindernis in ländlichen Räumen ist das Fehlen eines vergleichbar großen Wohnungsunternehmens, das eine ausreichende Anzahl an Wohnungen zur Verfügung stellen kann. Dennoch weisen ländliche Regionen höhere Leerstandsquoten auf, was potenziell eine Chance für Housing First darstellt. Gleichzeitig gibt es dort jedoch auch weniger Personen, die der Zielgruppe zuzuordnen sind (ebd.). Die Autor*innen der Studie erläutern, dass Housing-First-Angebote erst ab einer gewissen Anzahl von potentiellen Teilnehmenden sinnvoll umsetzbar sind und nehmen eine Mindestanzahl von über 50 untergebrachten Wohnungslosen als ersten Anhaltspunkt. Da die Bedarfslage jedoch von Einzelfall zu Einzelfall unterschiedlich ist, sollte diese Schwelle individuell geprüft werden (ebd.). Für kleinere Landkreise empfehlen die Autor*innen, Einzelfallhilfen über Leistungsvereinbarungen gemäß §§ 75 ff. SGB XII für Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII zu finanzieren, um wohnbegleitende Unterstützung nach den Prinzipien von Housing First sicherzustellen (S. 5).

In Deutschland nimmt die Anzahl an Housing-First-Angeboten stetig zu, wenngleich die Einführung im internationalen Vergleich relativ spät erfolgte. Dabei zeigt sich, dass die Einhaltung der grundlegenden Housing-First-Prinzipien in der Praxis unterschiedlich stark ausgeprägt ist (S. 9). Dies stellt in der bundesweiten Koordination eine Herausforderung dar, die jedoch bereits durch den Bundesverband Housing First sowie die Empfehlungen des Deutschen Vereins adressiert wird.

Ebenfalls nicht zu vernachlässigen sind die Herausforderungen, die für die Teilnehmenden be- oder entstehen. Nach dem Bezug einer eigenen Wohnung bestehen viele gesundheitliche Probleme der Teilnehmenden weiterhin oder treten verstärkt zutage. Hinzu kommt, dass Gläubiger nun verstärkt Schulden geltend machen, Strafbefehle einfacher vollstreckt werden können und die regelmäßige Mietzahlung abgesichert werden muss, während die finanziellen Spielräume der Betroffenen weiterhin gering bleiben. Sucht- und psychische Probleme persistieren oder verschärfen sich sogar. Zudem fällt es vielen Teilnehmenden schwer, sich von "der Szene" zu lösen, oder sie kämpfen mit der entstehenden sozialen Isolation. In seltenen Fällen kommt es aufgrund der gesundheitlichen Gesamtsituation der Betroffenen sogar zu Todesfällen nach dem Wohnungsbezug (S. 17).

Die Autor*innen weisen abschließend darauf hin, dass bei einem Housing First Angebot auch Ausnahmefälle einkalkuliert werden sollten. So können plötzlich eskalierende Krisen auftreten oder starke Schäden in der Mietwohnung (ebd.).

Wirkung: Kosteneffizienz

Die Autor*innen des Leitfadens resümieren einen eindeutigen finanziellen und ideellen Mehrwert des Housing First Angebots in Leipzig: Die Notunterbringung einer wohnungslosen Person kostete 2023 in Leipzig durchschnittlich 2.489€ pro Monat, wohingegen die Miete und intensive Wohnbegleitung durch Housing First lediglich 1.289€ pro Monat kostete (S. 10). Noch größere finanzielle Einsparungen konnten erzielt werden, wenn auch die (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt gelang. Allerdings sei dies aufgrund der komplexen Problemlagen der Zielgruppe selten der Fall. Ein ideeller Mehrwert besteht insbesondere durch das Verbessern der Lebenslage von Personen, denen über lange Zeit durch andere Hilfsangebote nicht geholfen werden konnte (ebd.).